Eine Berufungskommission trifft zusammen, um auf der Grundlage der eingesandten Bewerbungen und Schriften darüber abzustimmen, welche Kandidat*innen für die geplanten Probevorträge eingeladen werden. Ich bin als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Kommission. Die Bewerbungen werden einzeln diskutiert. Frau Y, sie ist die einzige Professorin in dem Bereich, in dem auch die neue Professur angesiedelt sein wird, diskreditiert mit unsachlichen Zuschreibungen und nicht aus den Unterlagen herleitbaren Bewertungen die Forschungsleistungen aller Bewerberinnen. Mein Kollege aus der Gruppe der wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen und ich haben alle Bewerbungen sehr genau gelesen. Wir führen gegen die beständige Herabsetzung der Kandidatinnen Argumente aus den Unterlagen an. Die Situation ist sehr angespannt und für mich heikel: Professorin Y ist meine Vorgesetzte.
Bei der Abstimmung kommt es zu unerwarteten Mehrheiten aus den Voten des Mittelbaus, der Studierenden und denen einiger Professoren. Für die Probevorträge werden schließlich drei Frauen und drei Männer eingeladen.
Nach der Kommissionssitzung treffen Professorin Y und ich zufällig die Sekretärin auf dem Gang. Die Sekretärin fragt, wie es gelaufen sei. Professorin Y erklärt, es sei sehr gut gelaufen, es seien sogar drei Frauen auf der Einladungsliste. Als sie das sagt, klingt es, als habe sie sich gegen die überwiegend männlichen Kommissionsmitglieder mit aller Entschlossenheit für die Bewerberinnen engagiert. Ich bin verwirrt. Wo genau ist die Verbindung gerissen zwischen vorhin und jetzt? Was ist der Zusammenhang zwischen der Machtausübung hinter geschlossenen Türen und der aufgeführten Solidarisierung unter drei Frauen in der Öffentlichkeit des Flurs? Welche Konstruktionen von Realität erlauben es, das eigene frauenfeindliche Handeln mit der Selbsteinschätzung zu vereinen, sich für andere Frauen in der Wissenschaft einzusetzen?